„Fließender Verkehr“

Dr. Sonja Brink

Fließender Verkehr

Schnittmuster mit Individuflutschis

Das mittlere Mappenwerk ist namengebend für den dreiteiligen Zyklus „Fließender Verkehr“ von Wolfgang Schiffling. Man kann die drei Mappenwerke als Zyklus zusammen betrachten, es gibt Varianten desselben Themas und alle drei werden von einer variierten Hommage an Albrecht Dürer beendet. Man kann die Zyklen aber auch einzeln sehen.

Chaos normal

im Gewoge

100 Jahre Automobil

Schiffling befasst sich - wie schon in früheren Arbeiten - auch in diesem Zyklus mit dem Automobil, ein Objekt, das wie kaum ein anderes das menschliche Leben beeinflusst und beherrscht. Diesmal hat der Künstler jedoch nicht das Auto als Einzelobjekt im Sinn, auf dem der Blick in Ruhe verweilen kann, sondern das Auto als eine Spezies, die sich unbegrenzt vervielfältigen lässt. Eine Anzahl dieser Exemplare hat sich in zum Teil rasende Bewegung gesetzt und scheint unabhängig vom Lenker ein Eigenleben zu führen. Auf Striche reduzierte Menschen müssen sich mit ihnen und mit der von ihnen vorgegebenen Geschwindigkeit auseinandersetzen und messen. Gehetzt eilen sie durch den Strom und man glaubt zunächst, sie vermögen es, ihn durch ihren aufrechten Gang zu teilen, oder gar aufzuhalten. Doch offenbar gehören sie verschiedenen Wirklichkeitsstufen an: Weiß und unberührt stehen sie über der Fläche. Auch das zweite Blatt spielt dieses Vexierspiel; der Betrachter, der den Umriss eines Fahrzeuges abtasten will, sieht, wie das Objekt seinem Blick entgleitet von einem gleichaussehenden überholt wird. Durch die Betrachtung entsteht Bewegung. Die „Dwarslöper“ oder Querläufer geben dann ihre Individualität völlig auf, sie sind nicht mehr als Einzelobjekte erkennbar und verschmelzen zu einer einzigen Woge. Hier verdichtet sich der Verkehrsstrom zum Meer. Das Blatt „Chaos normal“ arbeitet die Konfrontation heraus. Es ist ein ungemein lautes Blatt, man vermeint Aufprallgeräusche zu hören. Damit steht es im völligen Gegensatz zu dem folgenden. Dort herrscht Grabesstille. Wie der das kommende Unheil ankündigende Schimmelreiter triumphiert im letzten Blatt Dürers Pestkönig mit seiner schleppenden aber unerbittlichen Gangart über den Stillstand der ineinander verkeilten Wagen. Mit dem ersten und dem letzten Blatt schließt sich der Kreis: die rasende Bewegung mündet in den Stillstand. Die Mobilität ist ad absurdum geführt. Schiffling widerspricht in seiner Arbeit der noch optimistischen Forderung der Futuristen. In dem „Manifesto di Futurismo“ vom 11. Februar 1909 behauptete Filippo Marinetti, dass „... die Herrlichkeit der Erde um eine weitere Schönheit bereichert worden ist: die Schönheit der Geschwindigkeit!“ und dass „... ein rasendes Automobil um vieles schöner ist als die Nike von Samothrake“. Dies will Schiffling nicht unterschreiben.

Das Thema Automobil beschäftigte seitdem die verschiedensten Künstler. Bereits 1963 entstand Andy Warhols „Grünes Desaster“, das ein zerstörtes Auto in zehn Photosequenzen zeigt. Von 1968 stammt Wolf Vostells „Grüner Sessel“. Das Phänomen der Geschwindigkeit spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Mit Schifflings Zyklus wäre die Photomontage Dolf Hüppis vergleichbar, der 1958 den „Straßenverkehr“ in seinen verflochtenen und verschobenen Strukturen zeigt. Schafft die Verwendung von Photovorlagen in jenen Arbeiten einen perspektivischen Raum, eine nachvollziehbare Wirklichkeit, so arbeitet Schiffling in einer mehrschichtigen Fläche, die kein Raumgefühl erzeugt. Die Draufsicht lässt den Betrachter einen distanzierten Blickpunkt einnehmen. Dass er dennoch nicht unberührt bleibt, dafür sorgen vor allem das erste und das letzte Blatt. Sowohl Strichmännchen wie auch Tod sind plastisch greifbar.