Der Ausflug ins Grüne

Prof. Dr. agr. H. J. Schwartz
HU Berlin, Institut für Nutztierwissenschaften, Fachgebiet Nutztierökologie

Ich glaube, wir alle kennen die Situation, plötzlich zu entdecken, daß Vertrautes, Schönes, Bewundertes oder gar Geliebtes in unserer natürlichen oder menschen- gemachten Umwelt sich verändert hat, verändert worden ist, im Verschwinden begriffen oder verschwunden ist; daß es überlagert wurde, versteckt, verdrängt, zerstückelt, beschmutzt, verfremdet oder unwiederbringlich zerstört worden ist. Wir kennen alle auch, so denke ich, das Gefühl des plötzlichen Selbstvorwurfes, dass so etwas geschehen konnte, ohne dass wir eingegriffen haben, oder schlimmer noch, dass wir das Geschehen gar nicht bemerkt haben. Oft erkennen wir das einst Vertraute oder Bewunderte im Versteck, in der Stückelung, in der und können es entweder erinnernd wieder aufbauen oder in seiner neuen Form akzeptieren und in seinen neuen Bezügen erneut schätzen lernen.

Von diesen Vorgängen handelt „Der Ausflug ins Grüne“ von Wolfgang Schiffling, von der fast gleichzeitigen Erfahrung von Verlust und Wiederentdeckung, von der zunächst verärgerten und resignierten Duldung der neuen Form, die in eine zögerliche Faszination münden kann.

„Der Ausflug ins Grüne“ ist eine Serie von 10 grossformatigen Radierungen die dem Betrachter sofort und fast unerklärlich vertraut scheinen und trotzdem gleichzeitig aggressiv, irritierend, ja beinahe abstossend wirken. Verweilt man etwas länger, dann entdeckt man den Köder, den optischen Stimulus, den der Künstler genutzt hat, um die Aufmerksamkeit des unachtsamen Betrachters zu binden. Seine Radierungen überdecken Bildzitate, die Schiffling mit Recht Sehnsuchtsbilder nennt.

Es sind berühmte und populäre Bilder der grossen Meister A.Dürer, C.D.Friedrich, F.Léger, C.Monet H.Rousseau und G.P.Seurat sowie Fotos von Pölking und Rosing, die alle idealisierte und stereotypische Darstellungen der Natur und ihrer Kreaturen sind und dabei Ruhe, Schönheit und Ganzheit projizieren, selbst im Foto eines attackierenden Raubtieres. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Darstellungen wie diese die romantisierenden Vorstellungen des urbanen, des industriellen Menschen von Natur und natürlichen Geschöpfen entscheidend geprägt haben.

In Schifflings schmerzhaft verkrümmten, aggressiv zerstückelten und unabwendbar dominierenden Formen, die die Sehnsuchtsbilder überlagern, ist kein Raum für ruhige Betrachtung, keine spirituelle Erleichterung, kein Trost. Hier ist nur beunruhigende Erinnerung an Werte, die unwiederbringlich dem Bevölkerungswachstum, der Industrialisierung und dem Individualverkehr zum Opfer gefallen sind. Schiffling benutzt sein eigenes Werk „Fliessender Verkehr“ von 1987, sich selbst zitierend, um dies zu erreichen.

Das Ergebnis ist gleichzeitig betäubend und aufklärend. Es fördert das unbehagliche Gefühl, dass etwas falsch gelaufen ist in der Zeit unseres eigenen Erlebens, dass wir Teil und Komplize gewesen sind einer Entwicklung, ohne es wirklich zu merken, aus Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit. Viele von uns haben etwas verloren, was sie nie persönlich erfahren haben. Viele haben das Verlorene nur durch das Auge verstorbener Künstler wahrnehmen können. Wenn wir zu den wenigen Glücklichen gehören, die aus beruflicher Notwendigkeit oder persönlicher Neigung nach Resten unverdorbener natürlicher Schönheit suchen, können wir sie noch finden, die Landschaft im Abendlicht wie von C.D.Friedrich oder die präzise Ästhetik des Rasenstückes von Dürer.

Für mich selbst, Agrarwissenschaftler von Beruf und Bauer im Herzen, ist das anrührendste Blatt der Serie „100 Jahre Automobil über dem Sommer von Monet“. Verschliesst man sich der Oberfläche des Blattes und taucht ein in den Hintergrund, dann kann man beinahe den staubig herben Geruch reifenden Getreides wahrnehmen, vermischt mit dem Hauch des eleganten Parfums der jungen Dame, die sich von einem Sommerspaziergang ausruht. Ist man vertraut mit solcher Umwelt, kann man das trockene Rascheln der Getreidehalme und das Flattern der Blätter hören. Wenn man sich wirklich versenkt in die Vorstellung, ist es nicht ausgeschlossen, einen warmen Windhauch auf der Haut zu spüren.

All dies ist jedoch immer nur beinahe. Nicht immer im Fokus, aber immer präsent ist die brutale Störung des „Sehnsuchtsbildes“ durch die überlagerten, gequälten und missgebildeten Automobilformen, die sich einen bitteren Kampf um die Vorfahrt zu liefern scheinen. Die kurze Reise zwischen archetypischer Tranquilität und modernem Chaos und zurück geschieht mit einem Lidschlag und fasziniert mich wieder und wieder.

Ähnliche Zeitreisen kann man auf jedem Blatt der Serie machen. Alle hinterlassen das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes. Dem Betrachter wird sich jedoch auch schnell erschliessen, dass hier nicht nur ein Verlust beklagt wird. Es wird Zorn ausgedrückt, eine melancholische Wut, ein Aufbegehren dagegen, dass der Künstler nur zeigen kann, nur erinnern, nur
warnen, nur beklagen, aber nicht eingreifen, verändern, Kontrolle übernehmen.

Wolfgang Schiffling formuliert diesen Zorn, er macht ihn sichtbar, verstehbar. Er kann seinen Zorn übertragen, multiplizieren. Er kann dadurch vielleicht auch eingreifen.

H. J. Schwartz
Berlin, Oktober 2000