Mappenwerk HASARDSPIELE

ereilt - zerteilt (Mappeneinband)

von Heinz Ohff

„ereilt - zerteilt" hat Wolfgang Schiffling die Collage genannt, die - als Fotosiebdruck - den Mappeneinband ziert. Im Grunde könnten auch die restlichen fünf Blätter der „Hasardspiele" den Titel tragen. Fußgänger, diese rar gewordene Spezies Mensch, ereilt es leicht eines Tages im heutigen Straßenverkehr, wobei die Zerteilung nicht auf sie beschränkt bleiben muß. Man sehe sich Blatt 4 an: da hat es auch den Fahrer eines - ehemals - rasanten Sportwagens erwischt. Das Entsetzen ist diesmal auf Seiten zweier herbeigeeilter Passanten, deren schemenhafte Umrisse aussehen, als habe sie Georges Segal in Gips gegossen.

Wolfgang Schiffling übt Zeitkritik. In Berlin hat das eine lange Tradition: sie reicht von den Arbeitern Baluscheks, Käthe Kollwitz' und Zilles (die Kaiser Wilhelm zwo als „Rinnsteinkunst" abqualifizierte) bis hin zu den „Kritischen Realisten" unserer Tage. Und auch die einzige Findung, die speziell Berlin der modernen Kunst hinzufügen konnte, die dadaistische Fotomontage (Höch, Hausmann, Heartfield, Grosz, Baader), hatte mit optisch verschlüsselter Kritik zu tun. Während des ersten Weltkriegs ließen sich kritische Einwände gegen den „Rinnsteinkunst"-Kaiser und seine Politik nicht publizieren. Wenn sie nicht dem Zensor zum Opfer fallen sollten, mußte man es so anfangen, daß der Zensor nicht gleich auf den Sinn des Ganzen kam. So schnitten die Dadaisten Foto- und Dokumentarmaterial auseinander und setzten es zu neuer - und häufig doppelter - Bedeutung wieder zusammen: Kritik als Vexierspiel.

Daraus ist mittlerweile ein eigener Stil, eine eigene Kunst-Möglichkeit geworden. Auch Schiffling nutzt diese Berliner Tradition, wenn auch auf höchst moderne Weise. Er, der auch schon eine Serie mit dem bezeichnenden Titel „V-Weh" geschaffen hat, legt den Finger auf einen besonders wunden Punkt unserer Gesellschaftsordnung und Lebensgestaltung, auf die Motorisierung, die zu einer Sucht geworden ist. Daß das Auto nicht nur ein Fortbewegungsmittel darstellt und ein Statussymbol, sondern auch eine Tötungs- und Selbsttötungsmaschine, kristallisiert er ausgerechnet aus jenen Bilddarstellungen heraus, die das Gegenteil zu beweisen versuchen. Er nimmt Autoreklamen (meist aus dem „Stern"), sowie verwandtes Material, collagiert es mit Fotos, darunter auch eigenen, und überträgt die Montagen dann entweder auf die Leinwand oder, wie hier, auf die Radierplatte. Dabei unterlegt er, wie es einst die Dadaisten taten, den von der Werbung her bekannten und vertrauten Bildern jene Gefahr, jene Bedrohung, die diese aus gutem Grund verschweigen. Der „einwandfreie Zustand", der für ein Gefährt reklamiert wird, hindert dieses nicht, einen Wanderer auf regennasser Landstraße zu erfassen. Oder stellt Schiffling nur die Möglichkeit eines solchen Unfalls dar? Schreckgespenst des Fahrers oder des einsamen Wanderers? Der von den „Kreuzenden Verkehrszeichen" gehetzte Mensch und jener kühne „Springinsfeld", der da die aufblitzenden Scheinwerfer kreuzt - ein Selbstportrait übrigens des Malers -, sprechen Bände. Sie zeigen ebenso einfach wie eindringlich, daß Motor und Maschine die Oberhand zu gewinnen drohen, daß - Blatt 2 - „Wir Pflastertreter" auf eben dem Straßenpflaster gegen die hartgummibereifte ständige Drohung kaum noch etwas ausrichten können. Da Schiffling immer nur eine Situation, einen Einzelmenschen mit dieser Gefahr konfrontiert, sind Parabeln entstanden, Lehrgedichte, Anschauungs-Bilder, engagierte Kunst-Stücke, die wiederum uns, unseren Gewohnheiten, insbesondere unserem zivilisatorischen Haupt- und Staats-Fetisch, dem Auto, dem Individualverkehr zuleibe rücken.

Die - auch technisch vorzüglich gearbeiteten und gedruckten - Blätter sind ein Stück Kunst unserer unmittelbaren Gegenwart und ein moralischer Appell dazu. Schiffling, der gebürtige Marburger, ordnet sich nahtlos in die kritisch-realistische Berliner Tradition, die von der Kunst Kunst forderte, aber auch (wie es Nicolai ausgedrückt hat) „einen Beitrag zur Aufklärung des Menschengeschlechts."

Der ADAC dürfte als Sponsor für diese Mappe kaum infrage kommen. Sie wendet sich an das mittlerweile beinahe vollmotorisierte Menschengeschlecht, dem Aufklärung über das, was es angerichtet hat und tagtäglich weiterhin anrichtet, nicht schaden kann. Schiffling ist Künstler und Moralist. Er arbeitet auf zwei Ebenen, die sehr viel miteinander zu tun haben.

Kunst, hat Menzel gesagt, kann auch aus einem deutlich aufgerichteten Zeigefinger bestehen.

Quelle: Katalog Wolfgang Schiffling

V-Weh-Bilder, Wildwechsel-Zeichnungen, Radierungen und Mappenwerke